Lange Leitung vom Zahn zum Zeh!
Artikel vom 02. Mai 2010 Welt am Sonntag


Kieferfehlstellungen können orthopädische Probleme im ganzen Körper auslösen.Vor allem bei Kopfschmerzen und Migräne. Doch werden diese Zusammenhänge oft übersehen.
Maik Stöcker liegt auf dem Behandlungsstuhl seines Zahnarztes. Doch statt ihm in den Mund zu sehen, hebt Jürgen Dapprich die Beine seines Patienten, zieht abwechselnd daran und legt sie wieder ab. Normalerweise sollten beide Beine etwa gleich lang sein – nicht so bei Maik Stöcker. ,Legen Sie sich diese Watterollen zwischen die Zähne und laufen Sie eine Minute auf und ab“, bittet der Arzt. Danach vergleicht er erneut die Beinlänge. ,,Ihre Beine sind jetzt fast gleich lang. Ihre Rückenschmerzen kommen von oben – vom Kiefer.“
Was auf den ersten Blick unsinnig klingt; kann medizinisch erklärt werden: Der Kiefer ist über Muskeln und Nerven mit der Wirbelsäule – und so mit dem ganzen restlichen Körper – verbunden. Tritt im Biss ein Problem auf, kann es so die Erfahrung von Experten, deshalb in alle Richtungen ausstrahlen. Die zwei Watterollen zwischen den Zähnen sollen den Einfluss des Kiefers auf den Körper kurzzeitig aufheben. Ärzte nennen diesen Zusammenhang Craniomandibuläre Dysfunktion, abgekürzt CMD.
Orthopäden können etwa 80 Prozent der Rückenschmerzen nicht behandeln. Meiner Meinung nach liegt das oft daran, dass die Schmerzen durch ein Problem im Kiefer ausgelöst werden“, sagt Jürgen Dapprich, der in Düsseldorf ein Praxis betreibt. Aber auch Kopfschmerzen und Tinnitus bis hin zu einem schiefen Becken und Knieproblemen können seiner Ansicht nach die Folge eine CMD sein.

,,Der Körper gleicht Fehlhaltungen aus.
Ist das Schutzsystem erschöpft,
kommen die Schmerzen“.

Kopfschmerzen Schulterschmerzen Migräne
In Deutschland sind laut dem CMD-Dachverband e.V. etwa sieben Millionen Menschen betroffen. Sie leiden oft jahrelang unter Beschwerden und machen zahllose Therapien, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Denn dafür müssen Zahnärzte, Physiotherapeuten und Neurologen den Körper als Ganzes betrachten und über ihre Fachgebiete hinaus zusammenarbeiten. Doch das ist selten der Fall.
Auch Maik Stöcker kannte die Ursache seiner Beschwerden lange nicht. vor sechs Jahren hatte er Tinnitus auf dem linken Ohr, Schmerzen in der linken Schulter und einen Hexenschuss bekommen. Mit seinen Rückenschmerzen wandte sich de 32-Jährige an einen Orthopäden, mit dem Tinnitus an einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Der Orthopäde gab ihm Schmerzspritzen, der HNO-Arzt verschrieb ihm eine Tinnitusherapie. ,,Das ist ganz typisch“, sagt sein heutiger Zahnarzt. Der Zusammenhang zwischen Kiefer und Körper sei weitestgehend unbekannt. ,,Orthopäden können deshalb keine Ursache feststellen und behandeln nur die Symptome.“

Jürgen Dapprich stellte bei Maik Stöcker fest, dass die Zähne beim Zusammenbeißen nur noch auf der linken Seite Kontakt hatten. Doch nicht nur der Kiefer war asymmetrisch. Auch die Wirbelsäule war schief und das Becken war auf einer Seite nach oben gekippt.
,,Als die ersten Symptome auftraten, hatte ich eine sehr stressige Zeit“, erzählt Maik Stöcker. Stress und eine Störung im Zusammenbiss seien die zwei entscheidenden Faktoren für die Entstehung einer Craniomandibulären Dysfunktion, weiß Jürgen Dapprich, der seit 37 Jahren in Düsseldorf CMD-Patienten psychisch belastet ist und die Zähne aufeinander presst, muss der Biss korrigiert werden.“ Denn die Probleme entstehen nach Ansicht des CMD-Experten durch den Druck. Das kann folgendermaßen ablaufen: Steht ein Zahn etwas höher als die anderen, und de Patient presst die Zähne aufeinander, wird der Kiefer mit enormer Kraft in eine asymmetrische Position gezwungen. Das spannt die Kiefermuskeln ungleich und lässt sie verkrampfen. Auf Dauer kann sich diese Spannung auf die gesamte Schädelmuskulatur übertragen.

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Der Physiotherapeut Martin Seiter aus Darmstadt, der sich auf CMD-Behandlungen spezialisiert hat, erklärt, warum die Beschwerden aber oft nicht auf den Kopf beschränkt bleiben: ,,Aus Selbstschutz versucht der Körper ständig, Verspannungen und Fehlhaltungen auszugleichen.“ Dazu nutze er Muskeln und Nerven, die in einem intelligenten System zusammenspielen. Im Hirnstamm werden eingehende Informationen über verspannte Muskeln und belastete Knochen und Gelenke automatisch ausgewertet. Daraufhin sendet das Gehirn Signale an andere Muskeln. Sie ziehen sich zusammen und balancieren das Ungleichgewicht dadurch aus. Bei Maik Stöcker waren es wahrscheinlich die Muskeln im Nacken und in der linken Schulter, die seine Kieferfehlstellung ausglichen.
Durch die Anspannung in der Schulter verkürzten sich die Muskeln auf der einen Seite seiner Wirbelsäule. Da diese Muskeln auch am Becken ansetzen, zogen sie auf dieser Seite die Hüfte und damit auch das Bein nach oben. ,,Dieses Schutzsystem verschafft uns einen enormen Puffer“, sagt Martin Seiter. ,,-aber wenn es erschöpft ist, kommen die Schmerzen.“

Wahrscheinlich hatte Maik Stöckers Körper lange Zeit die Asymmetrie des Kiefers ausgeglichen. Erst durch den zusätzlichen Hexenschuss machte sich die Überlastung der Wirbelsäule bemerkbar. Unter Fachleuten ist aber umstritten, ob ein falscher Zusammenbiss unbedingte Voraussetzung für eine CMD ist. Oliver Ahlers, zahnärztlicher Leiter des CMD-Centrums Hamburg-Eppendorf, fehlt dafür der Beweis. ,,Eine ungünstige Körperhaltung kombiniert mit Stress kann ausreichen“, sagt er. ,,Schiebt man den Kopf unnatürlich weit nach vorne, um etwa besser auf den Bildschirm zu sehen, kann das einen veränderten Zusammenbiss verursachen.“ In diesem Fall müsse die Körperhaltung anstatt des Bisses korrigiert werden.

Oliver Ahlers bezweifelt auch, dass Symptome wie Rücken-oder Knieschmerzen direkt vom Kiefer ausgelöst werden: ,,Bisher gibt es keine aussagekräftige Studie, die das beweist. Es spricht zwar viel dafür, aber nur weil Patienten mit Rückenschmerzen oft auch eine Störung im Zusammenbiss haben, muss dieses Problem die Schmerzen nicht verursachen.“
Auch Martin Seiter ist vorsichtig damit, den Zähnen eine zu große Bedeutung beizumesse: ,,Es ist wichtig, chronische von akuten Fällen zu unterscheiden“, betont er. Bei akuten Fällen könne er die Ursache eher erkennen, zum Beispiel eine Kieferfehlstellung. Dann könne es ausreichen, den Kiefer zu behandeln, um das Problem zu lösen. Bei fünf Prozent seiner Patienten ist das nach Angaben des Physiotherapeuten der Fall. ,,Bei allen anderen sind die Beschwerden aber chronisch und deshalb viel komplexer“, erläutert Seiter. Ein Grund dafür sei, dass bei chronischen Beschwerden Ursache und Wirkung nicht mehr voneinander zu unterscheiden seien. ,
Der Kiefer ist dann nur noch ein Teil des Problems.“ Das trifft seiner Ansicht nach auf etwa 80 Prozent seiner Patienten zu. Eine zahnärztliche Behandlung sei für sie aber trotzdem wichtig. ,,Würde bei diesen Patienten der Biss nicht korrigiert, kämen die Verspannungen immer wieder.“ Auch Sonderschulpädagogin Sonja Hentschel litt jahrelang an CMD, ohn e es zu wissen. ,,Ich hatte regelmäßig Phasen, in denen ich mich fühlte, als hätte ich eine Grippe. Ich hatte Gliederschmerzen und war müde“, erzählt sie. ,,Das hat mich immer mehr eingeschränkt. Für Freizeitaktivitäten hatte ich oft keine Kraft mehr.“ Sie weiß heute, dass bei ihr der falsche Zusammenbiss die CMD verursacht hatte. Dieser kann verschiedene Gründe haben: ,,Meistens ist der Biss von Natur aus nicht exakt symmetrisch“, sagt Jürgen Dapprich. Aber auch eine zu hohe Krone oder eine kieferorthopädische Behandlung könne den Biss verändern.


Kopfschmerzen Schulterschmerzen Migräne Der Zahnarzt erzählt von einer 14-jährigen Patientin:
,,Drei Wochen nachdem sie eine feste Zahnspange bekommen hatte, plagten sie starke Rückenschmerzen.“ Ihren Eltern sei dieser Zusammenhang aufgefallen – die Zahnspange war tatsächlich falsch angepasst. Was Langzeitfolgen betrifft, geht Jürgen Dapprich sogar noch weiter: Er ist der Meinung, dass sich Knochen und Gelenke, die durch eine Craniomandibuläre Dysfunktion lange einseitig belastet sind, mechanisch abnutzen. ,,Daraus können Bandscheibenvorfälle, Hüft- oder Kniegelenksarthrosen entstehen“. Bei einer seiner Patientinnen wurde eine Hüftoperation durch die Bisskorrektur überflüssig. Die Frau hatte keine Schmerzen mehr, weil das Becken nach der Behandlung wieder gerade stand.
Behandelt wird CMD meist mit einer Aufbissschiene. Sie stellt den Kontakt zwischen den Zahnreihen wieder her. Dadurch entspannen sich alle Muskeln. Die erarbeitete Fehlstellung korrigiert sich langsam von selbst. ,,Wöchentlich muss die Schiene neu angepasst werden“, sagt Jürgen Dapprich. Solange sich der biss noch verändere, sei die Vorbehandlung nicht abgeschlossen. Bei Maik Stäcker dauerte die Vorbehandlung etwa zwei Jahre. Dann wurden seine Zähne so eingeschliffen, dass sie gleichmäßig aufeinanderstanden. ,,Obwohl mein Biss anfangs so unregelmäßig war, wurde im Endeffekt nur an wenigen Stellen ein bisschen geschliffen“, erzählt Stöcker. Tinnitus und Rückenschmerzen sind weg.
Als Spezialistin für diese Probleme stehe ich Ihnen zur Verfügung! Ich arbeite sehr eng mit Zahnärzten und Orthopäden zusammen!

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